Einmal Knigge zum Mitnehmen bitte.

Wahrscheinlich war es schon immer so, aber in letzter Zeit fällt es mir vermehrt auf: Sobald Menschen ihr Heim verlassen, scheinen sie ihren Anstand Zuhause am Schlüsselbrett hängen zu lassen.
Wir waren am Samstag bei IKEA, ja, kein guter Zeitpunkt, schon klar. Was macht man zuerst, wenn man nach der langen Fahrt rein kommt? Man geht auf’s Klo! Und da ging es schon los: Ob da Erwachsene gewütet haben, oder ein Kind, dessen Eltern es wohl auch egal war, jedenfalls war der Boden übersäht mit mehr oder weniger großen, mehr oder weniger nassen Papierstreifen, ebenso waren einige der Waschbecken damit verstopft, einige der Wasserhähne liefen unbeachtet vor sich hin und wer auch immer ein Tuch benutzte, warf es achtlos auf oder neben den überquellenden Mülleimer, obwohl es ein Stück entfernt noch einen fast leeren gab. Das schockierte mich, erwarte ich so ein Verhalten doch höchstens nachts besoffen im Club von den Menschen.
Weiter ging’s zum HotDog Stand, wir genehmigten ihn uns ausnahmsweise vorher, da wir zur Mittagszeit angekommen waren, und da wurden wir schon wieder mit menschlicher Faulheit, Nachlässigkeit, oder wie auch immer man es nennen mag, konfrontiert. Nun wissen wir alle, dass HotDog Essen eine heikle Angelegenheit ist, aber nichtsdestotrotz kann man sich doch Mühe geben, nicht den gesamten HotDog bis auf das Würstchen auf dem Boden zu verteilen. Und selbst, die, die ihre kompletten, natürlich viel zu hoch gehäuften, Gratiszutaten wenigstens über einem Tisch fallen ließen, sahen gar keinen Grund, ihren Dreck selber zu beseitigen, geschweige denn, ihren Müll selbständig in die dafür vorgesehenen Behälter zu transportieren. Hey, für 1€ kann man schließlich erwarten, dass das jemand für einen erledigt, oder?
Das Verhalten in der Hauptverkaufshalle spare ich mir lieber ganz, nur so viel, ja, es ist in den Ausstellungswohnungen erwünscht, sich zu setzen, alles anzufassen und auch mal ein Kissen umzudrapieren, ja, die vielen Kisten laden zum Wühlen ein und ja, es kann nicht alles wieder an seinem Platz landen, aber was da heruntergeworfen wurde, ohne wieder aufgehoben zu werden, beim Umentscheiden in andere Kisten oder Regale gestopft wurde, achtlos in der Hand und dann verächtlich irgendwo anders landete war schon erschreckend anzusehen. Ganz zu schweigen von der Stimmung unter den Käufern, besonders die Wagenbesitzer schienen ein gewisses Vorrecht zu besitzen, nicht nur Gänge zu verstopfen, sondern auch Wagenrennen um Kurven zur nächsten Grabbelkiste zu veranstalten und natürlich, achtlosen Besuchern in Bauch und Beine zu fahren, nicht, ohne anschließenden bösen Blick, statt einer Entschuldigung.
Nun sind wir entspannte Leute und suchten zum Glück keine komplette Wohnungseinrichtung, sondern nur ein paar Kerzen und Kissenbezüge, aber ich kam nicht umhin, über diese Verhaltensweisen nachzudenken.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die gleichen Leute sich in ihrer blitzblanken, IKEA möblierten Wohnung, genauso verhalten. Ist das dann so eine Art Kompensation? Oder greift das Internetphänomen der Anonymität, in der man sich nicht nach dem normalen moralischen Kompass richten muss, nun auch schon im realen Leben?
Wie eingeengt muss das eigene Leben sein, wenn man sich am Wochenende mit Drängeln, Schubsen, Kleckern und Schimpfen Luft machen muss?
Und warum schwafelt die Tante eigentlich die ganze Zeit von ihrem IKEA Besuch?
Nun, wir kämpfen bei uns im Laden mit den gleichen Problemen, wenn auch im kleineren Maßstab.
Kunden, die schon angepisst reinkommen, aber trotzdem freundliche Professionalität fordern, Leute, die achtlos ganze Regalordnungen durcheinanderbringen, ohne wirkliche Kaufabsicht zu zeigen, Menschen, die Dinge fallen lassen (und wieder aufheben, wenigstens was), ohne sich zu entschuldigen. Es wird ungefragt gegessen, getrunken, Kinder werden zum Spielen im Laden laufen gelassen, sortierte Kisten werden einmal komplett durchgewühlt und dann im Chaos zurückgelassen.
Und wehe, man spricht einmal jemanden auf sein Fehlverhalten an: Geknallte Türen, „hier kauf ich nicht mehr“, schlechte Bewertungen im Netz sind nur einige der „Folgen“ für uns.
Offenbar wurde der Kunde vom großen Einzelhandel komplett verwöhnt und ist es nicht mehr gewohnt, achtsam mit fremdem Eigentum umzugehen und Respekt vor der Arbeit hinter den Kulissen zu zeigen.
Letztens beobachteten wir im LIDL einen Mann, der 10 Minuten lang die Erdbeeren umsortierte. Er nahm jede einzelne Schale in die Hand, nahm jede einzelne Erdbeere heraus, betrachtete und betatschte sie und suchte sich dann eine neue Schale mit den offenbar besten zusammen. Wir sprachen ihn darauf an, da es natürlich OK ist, sich für sein Geld gute Exemplare auszusuchen, aber jede einzelne anzufassen fanden wir doch ein bisschen übertrieben. Er beschimpfte uns, fragte, was uns das anginge und sagte, das mache er immer so und das wäre ja auch sein Recht. Wir sprachen eine Mitarbeiterin an und diese erklärte uns, das sein Verhalten nicht in Ordnung, aber vollkommen rechtens sei und sie gar nichts dazu sagen dürfe, ohne selber von oben abgemahnt zu werden. Gleiches gilt für Kunden, die an der Kasse pöbeln, bereits angetrunken reinkommen, sich über Preise, Nichtverfügbarkeit oder allgemein den „Scheißladen“ auslassen. Immer nicken, lächeln, freundlich bleiben.
Ein Wunder, dass es keine Statistiken über Suizid im Einzelhandel gibt. Aber wahrscheinlich blenden die Mitarbeiter das Erlebte eher aus, weil es nicht ihr Laden, nicht ihre Artikel und die Beschimpfungen nicht gegen sie selber gerichtet sind (außer bei der alten Blonden im REWE, die Beschimpfungen richten sich alle gegen sie 😀 ).
Bei uns ist das was anderes. Ständig pendelt man zwischen spreche ich das jetzt an und riskiere eine negative Bewertung, einen verlorenen Kunden (bei einigen nicht schlimm drum) und allgemein schlechte Stimmung, oder beiße ich mir auf die Zunge und trage das nach Feierabend mit mir und dem Feierabendbier aus?